Thema Mutterkult: „Herr Seepferdchen“ von Eric Carle

Cover von "Herr Seepferdchen" von Eric Carle - alle Rechte beim Gerstenberg Verlag

Ich bin Mutter eines kleines Kinds. Und ich bin es wirklich gerne – um nichts in der Welt würde ich mein Kind hergeben, auch wenn es mich manchmal halb in den Wahnsinn treibt und wir gerade Peak „Waaaruuuum?!“ erreicht haben. Wie man an diesem Blog vielleicht ein wenig merkt, sind wir eine sehr bücherliebende Familie. Was mir immer wieder auffällt: Es gibt zahllose wunderschöne Kinderbücher, aber fast alle richten sich an Mütter und Kinder und beschwören die Mama-Kind-Liebe. Dem kleinen Kind gefällt das, es geht ganz in solchen Erzählungen auf und kuschelt sich dann besonders nah an mich. Aber was lernt ein Kind da eigentlich? Und was ist mit meinem Mann? (Oder bei LGBT-Partnerschaften?) Ich hoffe ich finde die richtigen Worte, um meine Gedanken zusammenzufassen.

Cover von "Herr Seepferdchen" von Eric Carle - alle Rechte beim Gerstenberg VerlagGleichberechtige Elternschaft

Wir versuchen uns an gleichberechtigter Elternschaft – was uns sicherlich nicht immer wirklich gut gelingt. Aber mein Mann war derjenige, der unser Baby in den ersten Lebensstunden im Arm hielt, ihm die erste Nahrung gab, die erste Windel wechselte (und als erster ne volle Ladung Babykacke abbekam). Was ist mit den Vätern, die für ihre Kinder da sein wollen? Wo sind die Massen an Papa-Kind-Bücher? Mein Kind bekommt durch seine Kinderbücher beigebracht, die Beziehung zur Mutter besonders schätzen, sie wird als besonders herausgehoben. Ist dieser glorifizierte Mutterkult nicht irgendwie… unfair? Nicht nur meinem Partner, auch mir gegenüber. Dieser Tanz um das goldene Kalb des Mutterkultes lädt Frauen mehr Care-Arbeit (oder Mental-Load, wie in diesem Twitter-Thread von Anna genauer erklärt) auf, weil – nur Mutti kann es ja richtig machen oder alles im Kopf behalten. Es ist im Grunde ein vergiftetes Lob und es sorgt dafür, dass partriarchale Strukturen bestehen bleiben, Arbeitgeber verständnislos gegenüber Arbeitnehmer*innen mit Kindern sind und auch dafür, dass der klassische Cis-Mann in der festgebackenen Rolle toxischer Männlichkeit stecken bleibt und nicht die Bedürfnisse und Überlastung der Partnerin sieht. Deswegen die Vorstellung von diesem unscheinbaren, kleinen Bilderbuch „Herr Seepferdchen„* von Eric Carle – damit Kinder (und die Eltern) lernen, dass auch Papas alles machen, lieb haben und sich kümmern können.

 

Eric Carle und die kleine Raupe Nimmersatt

Der US-amerikanische Künstler und Kinderbuchautor Eric Carle ist so ziemlich jedem, der auch nur ansatzweise mit Kleinkindern zu tun hat, bekannt. Vor allem sein Bilderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt*“ ist in fast jedem Bücherregal kleiner Kinder vorhanden. Unfassbar, dass dieser zeitlose Klassiker in diesem Jahr schon 50 wird (und Eric Carle 90!). Unzählige schöne Kinderbücher hat Carle der Welt geschenkt, die wenigsten wissen aber, dass er zwar in den USA geboren wurde, aber deutsche Wurzeln besitzt. Als Kind Deutscher Auswanderer, die (ausgerechnet) 1935 wegen dem Heimweh der Mutter zurückkehrten, wuchs er während der Zeit der Nationalsozialisten in Stuttgart auf. Während sein Vater seine Träume und Naturverbundenheit sensibel förderte, vertrat seine Mutter die „deutsche“ Ansicht, dass ein Kind vor allem zu gehorchen habe. Doch da schon als Kind in den USA seine ungewöhnliche zeichnerische Begabung auffiel, wird er auch in Deutschland weiter gefördert. Sein Zeichenlehrer zeigt dem Kind Carle heimlich Reproduktionen verbotener, sogenannter „entarteter Kunst“ (Picasso, Matisse, Kandinsky, Klee…) – so lernt er deren fremdartige Schönheit neben dem bei den Nazis auf dem Unterrichtsplan stehenden Naturalismus und Realismus kennen.
Also Jugendlicher wird er erst evakuiert und dann in die Wirren und Gewalt des Kriegsgeschehens gezogen. Nach dem Fall der Nazis fällt es ihm schwer, sich in das – durch Züchtigungen zu früheren Zeiten sowieso schon verhasste – Schulsystem einzufügen.
Mit 16 ergattert er durch seine künstlerischen Arbeiten einen Studienplatz für Gebrauchsgrafik an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, kehrt dann 23jährig in die USA zurück, wird mit Ende 30 eher zufällig Illustrator und Autor von Kinderbüchern und erkennt, dass hierin seine Berufung liegt. Mit seinen Büchern möchte er den Kindern einerseits Spielzeug schenken, andererseits auch Wissen vermitteln.

 

Bilderbuch „Herr Seepferdchen“

Das Bilderbuch „Herr Seepferdchen“ ist keine Neuerscheinung, sondern einer von Carles zeitlosen Klassikern. Hier wird farbenfroh von dem regenbogenbunten Seepferdchen-Papa erzählt, der die Seepferdcheneier in seinem Beutel aufzieht – quasi bindungsorientierte Erziehung auf seepferdisch. Vollkommen selbstverständlich und unbeschwert nimmt er den Nachwuchs an sich und Frau Seepferdchen geht ebenso unbeschwert weiter ihren Dingen nach. Und das alles, ohne dass Herr Seepferdchen dafür anstrengend gekopftätschelt oder gelobt werden will, da er ja der Mutter „ihre“ Arbeit abnimmt.

Zwischendrin finden sich Folienseiten – transparent mit bunten Druck, hinter denen man andere Wasserbewohner entdecken kann. Entspannt lässt sich Herr Seepferdchen nun weiter durchs Meer treiben und trifft dabei allerlei andere Fische, darunter auch viele andere Väter, für die es vollkommen selbstverständlich ist, die Aufzucht des Nachwuchses zu übernehmen. In den Begegnungen bestärkt Herr Seepferdchen die anderen Väter positiv darin, wie gut sie sich um die Kinder kümmern, fasst zusätzlich deren Gefühle in Worte und zeigt den Leser*innen wie stolz und glücklich die Papas bei dieser Aufgabe sind. Ein Empowerment für die Väter und die Kinder. Am Ende kommen die Seepferdchen-Babys zur Welt und Herr Seepferdchen schickt sie mit einem „Ich hab dich sehr lieb“ hinaus in die Welt.
In einer Zeit, in der immer mehr Väter altes Rollenverhalten überdenken, ihre Kinder umsorgen und eben auch schon im Babyalter bei ihnen sein und gleichwertig für sie sorgen wollen, ist so ein Buch aktueller denn je. Denn auch wenn es viele tolle Kinderbücher auf dem Markt gibt: Oft handeln die Bücher von Müttern, die ganz typisch und rollenkonform die Care-Arbeit (Sorge-/Pflegearbeit, die familiär meist nur von Frauen erledigt wird) leisten und der idealisierten Mutter-Kind-Beziehung. Was ja durchaus schön und sein kann, aber eben sehr viel Raum nach oben für liebevolle Bücher über Vaterbeziehungen lässt – wenn man denn so klassisch heteronormativ bleiben möchte. Unsere Kinder wachsen mit dem auf, was wir Ihnen jeden Tag vorleben und vorlesen, deswegen müssen sie gezeigt bekommen, dass es Alternativen zu den veralteten, gesellschaftlich tradierten Rollenbildern gibt.

Fazit: Da ist Liebe zwischen den Seiten! Ein berührend schönes Vorlese-Bilderbuch für Kinder ab drei Jahren, das bestimmt auch gutes Ausgangsmaterial für weiteres Erforschen von Tieren ist, aber vor allem einen Grundstein gegen toxische Männlichkeit legt. Wer noch mehr zu Eric Carle und seinem Leben erfahren will, wird auf den Seiten des Gerstenberg-Verlags fündig.

Kleines Add-on, da die Frage tatsächlich schon kam: Ja, Seepferdchenpapas sind tatsächlich diejenigen, die trächtig sind und die Eier in ihrer Bauchtasche austragen. Das ist keine carlsche Kinderbuchfiktion.

Eric Carle
Herr Seepferdchen*
Gerstenberg Verlag, 2013
ISBN: 978-3836954921
40 Seiten, 9,95 Euro

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